Romane


Frau Kaiser und die Steine auf ihrem Weg
Architektin Helene Kaiser – von Freunden und Verwandten Leni genannt – ist jung, hübsch und Single. Als sie bei einer Geburtstagsparty auf Johannes trifft, erkennt sie in ihm einen ihrer Ex-Auftraggeber wieder. Der vormals so unsympathische Klotz wohnt jetzt direkt nebenan und ist bei näherer Betrachtung alles andere als unattraktiv. Schon beim ersten Tanz löst sich Lenis Abneigung in Luft auf, immer stärker fühlt sie sich vom wortkargen Nachbarn angezogen. Bis Johannes einem Date zustimmt, sollen Monate vergehen. Doch Leni lässt sich nicht entmutigen, und ihre Beharrlichkeit zahlt sich aus. Als es endlich so weit ist, scheint ihr Glück zum Greifen nah. Wenn es da nicht eine unsichtbare Macht gäbe, die Leni immer wieder Steine in den Weg legt und ihre Liebe auf eine harte Probe stellt …

Frau Kaiser und der Dämon
Leni Kaiser geht es schlecht. Nachdem ihr Mann Johannes sie vergewaltigt hat, liegt sie mit einer Hirnblutung und hochschwanger im Krankenhaus. Langsam kehren ihre Erinnerungen zurück. Doch Leni kann ihrem Mann verzeihen, den sie unerschütterlich liebt und der sich rührend um sie kümmert. Als ihre süßen Zwillinge geboren werden, scheint das Glück für sie vollkommen zu sein. Doch bald hat Johannes wieder mit unkontrollierbaren Wutanfällen zu kämpfen. Fühlt er sich von einer Frau bedrängt, wird er gewalttätig. Leni will Johannes helfen, seinem Trauma auf die Spur zu kommen. Aber er schweigt. Die Ehe mit ihrem Traummann entwickelt sich für Leni allmählich zum Alptraum. Siegt doch die Liebe?

Ausbruch vor 50
Leni Kaiser geht es schlecht. Nachdem ihr Mann Johannes sie vergewaltigt hat, liegt sie mit einer Hirnblutung und hochschwanger im Krankenhaus. Langsam kehren ihre Erinnerungen zurück. Doch Leni kann ihrem Mann verzeihen, den sie unerschütterlich liebt und der sich rührend um sie kümmert. Als ihre süßen Zwillinge geboren werden, scheint das Glück für sie vollkommen zu sein. Doch bald hat Johannes wieder mit unkontrollierbaren Wutanfällen zu kämpfen. Fühlt er sich von einer Frau bedrängt, wird er gewalttätig. Leni will Johannes helfen, seinem Trauma auf die Spur zu kommen. Aber er schweigt. Die Ehe mit ihrem Traummann entwickelt sich für Leni allmählich zum Alptraum. Siegt doch die Liebe?

Spring über den Schatten
Leni fühlt sich auf dem Gutshof ihrer Schwiegereltern nicht mehr wohl. Sie trauert um Johannes, ihren Ehemann und Vater ihrer beiden Kinder, der den Freitod gewählt hatte. Allmählich kommen Heimweh und auch Geldprobleme hinzu. Die ständige Beobachtung und Kontrolle seitens ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin kann sie kaum noch ertragen. Deshalb fasst sie den Entschluss, in ihre Heimatstadt Freiburg zurückzukehren. Sie findet dort einen Job in ihrem Beruf als Architektin und fährt mit ihren dreijährigen Zwillingen und einem vollbepackten Auto Richtung Heimat. Ihr Bruder und ihre Großeltern unterstützen sie liebevoll bei ihrem Start in diesen neuen Lebensabschnitt. Als sie dem attraktiven Kinderarzt Adrian begegnet, fühlt sie sich zum ersten Mal
wieder zu einem Mann hingezogen. Doch sie kann einfach noch nicht über ihren Schatten springen und eine neue Beziehung eingehen. Eine große Herausforderung für Adrian, der es nicht gewohnt ist, um eine Frau kämpfen zu müssen.
Leseprobe: Frau Kaiser und die Steine auf ihrem Weg
„Hi Ladys, ihr habt aber viel vor!“ Maximilian strahlte die beiden jungen Frauen, die mit Getränkekisten und vollen Einkaufstüten vor dem Lift in der Tiefgarage warteten, mit einem Lächeln an, das für eine gute Zahnpasta-Werbung taugen würde. Und er sah verdammt gut aus mit dem lockigen schwarzen Haar, den dunklen Augen, dem leicht nach oben gezwirbelten Schnauzbart und dem kleinen Bärtchen auf dem Kinn. „Logo, meine Freundin feiert heute ihren Geburtstag“, erwiderte eine der beiden jungen Frauen lachend. „Kommt doch einfach auch dazu, wir haben sowieso zu wenig Jungs“, ergänzte sie. „He Leni, komm, lad die beiden doch ein, oder hat es dir die Sprache verschlagen?“, forderte sie ihre Freundin auf.
Leni war tatsächlich sprachlos, aber eigentlich sollte sie ihre Freundin Julia ja kennen, die ließ kaum mal eine Gelegenheit für einen Flirt aus.
„Oh, ihr wollt auch in den vierten Stock“ plauderte Julia munter weiter als alle in den Lift eingestiegen waren und Johannes den Knopf für den vierten Stock gedrückt hatte.
Zu viert und dann noch mit den ganzen Einkäufen war es in der Kabine ziemlich eng, und Leni war nicht auf das Kribbeln gefasst, das sie plötzlich überkam, als sie so nah neben Johannes stand. Sie sah auf ihre Schuhspitzen und hoffte, dass der Lift nicht stecken blieb.
„Wohnt ihr auch hier?“, wollte Julia dann auch noch wissen.
„Ja also, ich wohne hier, und das ist mein Bruder Max, der ist zu Besuch hier“, erwiderte Johannes trocken, ohne eine Miene zu verziehen.
„Verdammt noch mal, Julia, weisch du denn nid, wer des isch?“, wetterte Leni los, nachdem sie die Sachen rein getragen und die Tür geschlossen hatten.
„Nö, aber die sind doch total süß, vor allem der Schwarzhaarige“, schwärmte Julia.
„Oh Mann, der andere isch doch der blöde Typ von nebenan, der die Wohnung einfach nid so haben wollte, wie ich sie entworfen habe, und du lädsch den einfach zu mir ein, du ticksch doch nid mehr ganz richtig.“ Leni war stinksauer.
„Na und, das macht doch nichts. Ich wette, die sind cool drauf und eine Bereicherung für deine Party“, plauderte Julia träumerisch weiter.
„Mensch Max, musst du denn immer alle Frauen anbaggern?“
„Hey, entspann dich Alter, die sind doch klasse. Du hast mir gar nicht gesagt, dass da so eine heiße Braut neben dir wohnt“, konnte Maximilian es sich nicht verkneifen, seinen Bruder zu provozieren. „Die sieht echt spitze aus, so stell ich mir die Lorelei vor, mit diesen langen goldenen Haaren“, schwärmte er weiter. „Sie ist irgendwie so natürlich und nicht so aufgedonnert wie die Blondine.“
„Wir gehen da auf keinen Fall hin“, unterbrach Johannes die Schwärmerei seines Bruders barsch.
„Und ob wir das tun, meinst du, ich lass mir die beiden entgehen? Wir gehen jetzt eine Kleinigkeit für das Geburtstagskind besorgen. Los, auf geht’s“, drängte Maximilian seinen Bruder.
„Du spinnst doch total!“
„Das ist ja wohl auch nichts Neues“, feixte Maximilian.
***
Einige Monate zuvor
„Tja Frau Kaiser, der Kunde ist König, auch wenn er noch so seltsame Wünsche hat, und ich wäre wirklich froh, wenn Sie sich endlich mit Herrn von Moeltenhoff einigen könnten. So langsam vergeht mir die Lust mit Ihnen beiden“, wurde Leni vom Bauleiter ermahnt.
„Ja sicher, der Kunde ist König – aber ich bin die Kaiserin.“ Das rutschte ihr einfach so raus.
Mit einem schallenden Lachen quittierte Ralf Steiner diesen Ausspruch. „Aber wissen Sie was, das können Sie ihm jetzt gleich selber sagen, da kommt er nämlich.“
Leni war erst mal total sprachlos, nach dem, was der Bauleiter ihr bisher über diesen schwierigen Kunden erzählt hatte, hatte sie einen älteren, mürrischen Herrn erwartet. Mit so einem jungen Mann hatte sie nicht gerechnet. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende 30, wobei der Schutzhelm und das ernste Gesicht ihn vielleicht auch etwas älter wirken ließen.
„Nun Frau Kaiser, sie wollten doch mit dem Kunden reden“, versuchte der Bauleiter, sie aus der Reserve zu locken.
„Ja, ähm, also, ich habe da einen Vorschlag, wie wir uns vielleicht einigen könnten“, begann sie stockend. „Aber eins sage ich Ihnen gleich, Sie als Kunde sind zwar der König, aber ich bin die Kaiserin“, warf sie dann doch tatsächlich selbstbewusst ein.
Ein kurzes, erstauntes Lächeln, das aussah, als habe sich ein kleiner Sonnenstrahl durch eine Wolkendecke gestohlen, huschte über das bisher sehr ernste Gesicht des Kunden.
„Na dann lassen Sie mal seh’n“, erwiderte er nicht unbedingt sehr begeistert.
Leni erklärte ihm anhand der Zeichnungen auf ihrem Laptop ausführlich und sachlich in aller Ruhe ihre Ideen, wie sie sich wohl einigen könnten.
„Ja danke, ich melde mich dann wieder“, etwas verwirrt verabschiedete Johannes sich von den beiden und verließ die Baustelle.
„Ja sagen Sie mal, wie haben Sie das jetzt hingekriegt, der frisst Ihnen ja aus der Hand“, lachte der Bauleiter.
***
Die Brüder betraten die Wohnung, und kurz darauf war ein anerkennender Pfiff zu hören, worauf alle Gespräche wie auf Kommando verstummten.
„Wow, geile Wohnung! Die ist ja der Megaburner! Hey Joey, Alter, warum ist deine Wohnung nicht so hammermäßig geworden?“, ließ sich Maximilian in voller Lautstärke vernehmen.
In Leni kochte die Wut über diesen schwierigen Kunden wieder hoch. „Nun, ganz einfach, weil er es nicht so haben wollte“, ließ sie sich in etwas süffisantem Ton vernehmen. „Die romantischen Phantasien einer überkandidelten Architektin wollte er nicht in seiner Wohnung haben.“
Alle Augen waren jetzt auf Johannes gerichtet. Diejenigen, die die Geschichte kannten, hatten ein Grinsen im Gesicht, die Gesichter der anderen ähnelten eher Fragezeichen. Johannes war wie zur Salzsäule erstarrt und schaute Leni mit großen Augen und offenem Mund an.
„Ja ähm, also, ähm“, stammelte er „du bist, ähm, Sie sind die KAISERIN?“ „Das ist mir jetzt aber wirklich peinlich, ich hab Sie nicht wiedererkannt“, fügte er ziemlich kleinlaut hinzu und haderte im Stillen mit dem Bauleiter, der wohl seine Meinung über diese Architektin an sie weitergegeben hatte. Wohl oder übel mussten sie jetzt die Geschichte ihrer ersten Begegnung auf der Baustelle erzählen.
„Typisch mein großer Bruder“, Maximilian schüttelte den Kopf.
***
Das Wochenende und die kommende Woche vergingen, ebenso die nächste Woche, und Leni wurde immer unruhiger. Ich kann ihn doch nicht nochmal ansprechen, dachte sie, nicht ahnend, was sich da zusammenbraute. Die Zeit verging, und es kam ihr vor, als würde Johannes ihr gezielt aus dem Weg gehen. Sie war einfach nur traurig, und auch Romy war fassungslos. Eines Tages ergab es sich, dass sie gemeinsam im Lift nach oben fuhren, wobei sie ihn einfach nur fragend anschaute.
„Ja also, Lene, ähm, ich bin dir wohl eine Erklärung schuldig“, begann er zögernd. „Ich werde zum Jahresende nach Hamburg ziehen, ich habe da jemanden kennengelernt, und einen neuen Job habe ich dort auch schon.“
Leni hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand den Stecker gezogen. Sie konnte nichts darauf antworten, und da sie Tränen in den Augen hatte, drehte sie sich nur wortlos um, verließ den Lift und ging in ihre Wohnung. Mist, warum verliebe ich mich immer in die Falschen? dachte sie.
„Max, hast du das gewusst???“
„Was denn, Lenilein?“
„Dass dein Bruder eine andere hat! Warum hast du mir nichts gesagt?“ Sie schluchzte bitterlich.
„Hey Leni, ich weiß das doch auch erst seit kurzem. Da hat ihm jemand total den Kopf verdreht. Irgend so eine blöde Tussi, Tochter von einem renommierten Anwalt in Hamburg. Ich bin sicher, die will nur seinen Namen. Und das hab ich ihm auch gesagt. Aber er hört einfach nicht auf mich, ich bin ja nur der dumme kleine Bruder.“
„Was soll ich nur machen?“, jammerte sie.
„Ich fürchte, du kannst im Moment nichts machen, warte erst mal ab, bis er sich wieder abgekühlt hat.“
Gleich darauf klingelte das Handy von Maximilian erneut.
„Hallo Max, du, ähm, also, ich weiß nicht, ich glaube, ich habe da einen Riesenfehler gemacht.“
„Ja das hast du Bruderherz, du hast Leni das Herz gebrochen. Du Idiot!!! Wie kannst du nur?! Scheiße Mann, eh. Ich könnte dich würgen.“
„Aber ich kann doch jetzt nicht mehr zurück, der Vertrag mit der Kanzlei ist unterschrieben, die Wohnung ist so gut wie verkauft. Und wie soll ich Jessica das beibringen? Nein, ich kann nicht mehr zurück!“
„Natürlich kannst Du! Willst du wieder eine Beziehung eingehen, von der du von Beginn an nicht überzeugt bist?“
„Ich muss einfach weg von Freiburg, da sind so viele Erinnerungen, hier kann ich einfach nicht mehr glücklich werden.“
Die Brüder diskutierten noch einige Zeit über das Für und Wider, aber Johannes war nicht bereit, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Allerdings schärfte er seinem Bruder ein, die Finger von Leni zu lassen. „So einen treulosen Vagabunden wie dich hat sie schon mal gar nicht verdient.“
Währenddessen heulte sich Leni bei ihrer Freundin Romy aus. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wieso musste immer ihr sowas passieren? Wer legte ihr immer solche Steine in den Weg? Sie schien das Pech anzuziehen.
***
„Hallo Frau Kaiser. Dieses Mal habe ich Sie aber sofort erkannt“, begrüßte er sie lachend, als sie aus dem Lift kam.
Sie musste ebenfalls lachen. „Tja, Kleider machen Leute.“ Sie hatte nämlich bewusst das gleiche Outfit gewählt, dass sie bei ihrer ersten Begegnung auf der Baustelle getragen hatte, hellblaue, eng geschnittene Jeans, die knapp über dem Knöchel endeten, ein weißes, eng anliegendes T-Shirt und einen dunkelblauen Blazer, dazu dunkelblaue Mokassins. Zudem hatte sie ihre rotblonden langen Haare wie an jenem Tag zu einem französischen Zopf geflochten. Privat trug sie ihr Haar meistens offen oder das Oberkopfhaar mit einer Spange am Hinterkopf zusammen genommen.
„Aber etwas fehlt noch“, meinte er lachend und tippte sich an den Kopf.
Sie erwiderte sein Lachen und meinte: „Ich glaube, die Leute hätten kein Verständnis, wenn ich hier mit dem Schutzhelm durchs Hotel laufen würde.“
Sie beschlossen, das Auto auf dem Hotelparkplatz stehen zu lassen und die S-Bahn zu nehmen. Sie schlenderten mal Händchen haltend, mal eng umschlungen durch die Stadt. In einem Café aßen sie eine Kleinigkeit, und abends fanden sie ein gutes Fischrestaurant. Als sie spät am Abend ins Hotel zurückkamen, nahmen sie an der Bar noch einen „Schlummertrunk“ und gingen dann auf ihr Zimmer.
***
„Hallo Stéphanie, sag mal, hast du was von Leni gehört?“, fragte Johannes beunruhigt.
„Nein, warum, ich dachte, die ist auf dem Weg zu dir?“, fragte seine zukünftige Schwiegermutter zurück.
„Normalerweise ruft sie mich immer an, wenn sie im Zug sitzt, damit ich weiß, wann sie hier ankommt. Ich versuche schon seit Stunden, sie zu erreichen, aber sie geht nicht an ihr Telefon.“
Höchst beunruhigt fuhr die Mutter in ihre Wohnung, um zu sehen, ob Lenis Tasche noch da wäre. Dort angekommen, stellte sie fest, dass die gepackte Reisetasche noch auf Lenis Bett stand.
Was hatte das zu bedeuten?
Sie rief Johannes zurück und ging dann zur Polizei, um ihre Tochter vermisst zu melden. Dort kannte man zwar die ganze Geschichte von Leni und Holger, meinte aber, dass es viel zu früh sei, um etwas zu unternehmen. Außerdem sei der Stalker doch vor 14 Tagen, nach seinem Auftritt vor Lenis Wohnung, in die Psychiatrie eingewiesen worden. Da Frau Kaiser aber hartnäckig blieb, fragte man in der Klinik nach und erfuhr, dass er tatsächlich vor ein paar Tagen abgehauen war. Die Mutter geriet in Panik und machte hysterisch die Polizei dafür verantwortlich, wenn Leni etwas passieren würde. Was die dortigen Beamten aber wenig beeindruckte. Jetzt ging erst mal alles seinen gemächlichen Gang, es wurde alles aufgenommen und eine Fahndung rausgegeben. Immerhin kam man dann auch auf die Idee, Johannes zu informieren, der sowieso schon außer sich vor Sorge war, da das Handy von Leni jetzt tot war. Er beschloss, erst mal in Hamburg zu bleiben, in der Hoffnung, dass sie doch noch irgendwie den Weg dorthin finden würde, während Frau Kaiser sich von ihrem Sohn abholen ließ. Für alle begann eine Zeit des Wartens, voller Bangen und Sorgen.
Was war mit Leni geschehen?
***
Leseprobe: Frau Kaiser und der Dämon
Johannes stöhnte kurz auf und schüttelte den Kopf. Er saß mit seiner Mutter Susanne und seinem Bruder Maximilian, den alle nur Max nannten, in einem Warteraum vor dem Operationssaal und hoffte, dass seine Frau Leni die Hirnblutung, die sie erlitten hatte, überleben wird. Zunächst war er voller Selbstmitleid und machte sich laut Vorwürfe, bis seine Mutter ihn angeherrscht hatte, dass sein Selbstmitleid jetzt auch nichts helfen würde. Mal knetete er seine Finger, dann wieder drehte an seinem Ehering, oder er fuhr sich mit der Hand durch das dunkelblonde, leicht wellige Haar, das er links gescheitelt und nach hinten gekämmt trug. Von Zeit zu Zeit nahm er den Ring vom Finger und betrachtete die Gravur, die sich darin befand: Auf ewig Deine Kaiserin War dieses „ewig“ vielleicht schon vorbei? Er hielt es einfach nicht mehr aus. „Wie lange dauert das denn noch?“ fragte er halblaut vor sich hin. „Fuck!!! Halt einfach die Schnauze, Alter!!!“, brüllte sein Bruder ihn wütend an. „Ich dachte wirklich, du machst sie glücklich“ fuhr er anklagend fort. „Aber sie ist doch glücklich“, erwiderte Johannes leise. „Bis heute Morgen war sie das ja vielleicht, aber du Idiot machst doch wirklich alles kaputt“, ereiferte sich Max. „Hast du sie vielleicht auch noch geschlagen? Hat sie deshalb die Hirnblutung bekommen?“ Max war jetzt total aufgebracht. Johannes schüttelte energisch den Kopf. „Nein, natürlich nicht, ich schlag doch meine Lene nicht“. Max sprang mit geballten Fäusten auf. „Nein, aber vergewaltigen tust du sie, du Drecksack! Meinst du denn das ist weniger schlimm? Vor allem in ihrem Zustand! Und dann lässt du sie auch noch alleine da liegen“. Er war so wütend, dass er am liebsten auf seinen Bruder eingeschlagen hätte. „Ich wollte das doch gar nicht“, sagte Johannes resigniert. „Wir hatten einen kleinen Streit und ich war schon ins Gästezimmer gegangen, um dort zu schlafen. Danach habe ich einen kompletten Filmriss. Als Lene dann aber so geschrien und mich so entsetzt angeschaut hat, hab ich gemerkt, was ich da mache und habe sofort aufgehört“. Er schüttelte erneut den Kopf: „Diesen Schrei und diesen Blick werde ich mein Leben lang nie wieder vergessen“. Er war entsetzt über sich selber. „Ich wollte dann eine Runde laufen gehen, um den Kopf frei zu kriegen, aber ich kenne mich in der Gegend noch nicht so gut aus und habe mich total verlaufen“. „So blöd kannst doch wirklich nur du sein“, meinte Max immer noch total aufgebracht. „Jungs, es bringt doch nichts, wenn ihr aneinander hoch geht“, ermahnte Susanne von Moeltenhoff die beiden. „Wir sind doch alle angespannt. Aber es dauert eben so lange wie es dauert. Wir können einfach nur hoffen“. Sie fuhr an Johannes gewandt fort: „Leni gibt sich selber die Schuld, aber sie meint, dass du da etwas falsch verstanden hast“. „Was gibt es da falsch zu verstehen?“ erwiderte Johannes gequält. „Sie nimmt einfach keine Rücksicht auf ihre Schwangerschaft, und ist dann auch noch unzufrieden, wenn ich rücksichtsvoll bin“. Mehr wollte er sich nicht äußern, da er keinerlei Details ihres Sexuallebens preisgeben wollte. Für seine Verhältnisse hatte er schon viel zu viel gesagt. Gegensätzlicher wie diese beiden Brüder konnte man eigentlich nicht sein. Während der wortkarge und oft ernst wirkende Jurist Johannes die hellen Haare, die graublauen Augen und die stämmige Statur eindeutig von der Mutter geerbt hatte, war der schlanke Max schwarzhaarig und hatte dunkle, fast schwarze, Augen. Seinen Schnurrbart hatte er an den Eden aufgezwirbelt, was ihm, zusammen mit seinem Lockenkopf, ein etwas verwegenes Aussehen gab. Zudem war er absolut kein Kind von Traurigkeit. In Gegenwart von Frauen hatte er stets ein Lächeln auf dem Gesicht und einen flotten Spruch auf Lager. Sie hatten aber auch einige Gemeinsamkeiten, sie waren beide ungefähr eins achtzig groß und die regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio sah man ihnen an. Aber vor allem – sie liebten die gleiche Frau, die zierliche, rotblonde, von allen Leni genannte Architektin Helene Kaiser. Nur Johannes fand dass Leni kindisch klang und nannte sie Lene. Max, der normalerweise nichts anbrennen ließ, war der Meinung, dass er für Leni sogar monogam geworden wäre. Leni hatte sich aber in Johannes verliebt, obwohl der sie zunächst mit der Begründung, dass er noch um seine Frau und seinen Sohn trauere, die bei einem Autounfall ums Leben kamen, zurückgewiesen hatte. Da sie von Natur aus eher scheu und zurückhaltend war, ließ sie viel Zeit vergehen, genauer gesagt fast ein Jahr, bevor sie den Mut aufbrachte, ihn ansprach und um eine Verabredung bat. Er hatte zunächst zugesagt, sich bei ihr zu melden, ging ihr daraufhin aber aus dem Weg und gestand ihr eines Tages, dass er eine neue Beziehung habe, und nach Hamburg ziehen werde. Für Leni war eine Welt zusammengebrochen. Aus Verzweiflung ließ sie sich einige Monate später mit Oliver ein, der war ihr dann aber zu pervers und sie trennte sich nach einigen Wochen wieder von ihm. Auch die Beziehung von Johannes mit Jessica war nicht das, was er sich erhofft hatte. Auf Anraten von Max und seinem neuen Hamburger Freund Henrik, der Jessica kannte, beendete er diese Beziehung bald nach dem er nach Hamburg gezogen war. Sein Chef war zwar außer sich, da er ihm die Nachfolge der Kanzlei versprochen hatte, wenn er seine Tochter Jessica heiraten würde, aber das Opfer war Johannes doch zu groß und zudem konnte er Leni nicht vergessen. Obwohl Max sich vom ersten Augenblick an in sie verliebt hatte, war er es, der Leni vor etwas über einem Jahr drängte zu Johannes nach Hamburg zu reisen, was sie dann auch tat. Seit dem waren Johannes und Leni ein Paar. Sie hatten im März standesamtlich und im Juni kirchlich geheiratet, wohnten jetzt zusammen am Stadtrand von Leipzig und freuten sich auf die Zwillinge, die im November zur Welt kommen sollten.***
Es war also doch kein Alptraum dachte Johannes als er aufwachte. Er fühlte sich total steif und er musste dringend zur Toilette. Er ging auf den Gang und suchte nach jemandem, der ihm den Weg zur Toilette zeigen konnte. Danach schickte ihn die besorgte Pflegerin in die Cafeteria, um zu frühstücken. Er musste zugeben, dass das Frühstück ihm gut getan hatte. Zwischendurch hatte er mit seiner Mutter telefoniert, um ihr zu sagen, dass Lenis Zustand unverändert wäre. Zum Glück hatte seine Mutter ihm, bevor sie ging, die Tasche von Leni ihn die Hand gedrückt, so dass er jetzt Geld hatte, um sein Frühstück zu bezahlen. In der Hektik war er ohne Geld und Papiere aus dem Haus gegangen. Er kam sich allerdings etwas seltsam vor, als er in die Tasche seiner Frau griff um den Geldbeutel raus zunehmen. Er hatte ihr ihre Privatsphäre gelassen, ebenso wie sie ihm seine. Auch in so kleinen Dingen. Es wäre ihm normalerweise nie in den Sinn gekommen, ihre Tasche zu öffnen. Aber was war seit gestern Morgen schon normal? Und Johannes tätigte noch einen Anruf. Seine Mutter hatte ihm nach seiner Ankunft in der Klinik die Visitenkarte einer Psychologin in die Hand gedrückt. Er war zunächst verwirrt, aber seine Mutter bestand darauf, denn sie war jetzt überzeugt davon, dass ihr Sohn professionelle Hilfe brauchte. Leni hatte am vorherigen frühen Morgen, nach dem Johannes sich an ihr vergangen hatte, verfrühte Wehen bekommen. Da Johannes nicht da war und sie wegdrückte, als sie ihn anrufen wollte, rief sie in ihrer Verzweiflung ihre Freundin Sarah an. Sarah Fischer war Gynäkologin und wohnte in Lenis Heimatstadt Freiburg. Sie befahl ihr, sofort den Notarzt zu rufen, was Leni dann auch machte. Außerdem verständigte Sarah die Familie von Johannes, die auf einen Gutshof im Münsterland lebte, worauf die Mutter und Max sofort nach Leipzig fuhren. Ihre eigene Mutter wollte Leni nicht behelligen, da diese immer sofort in Panik verfiel, und das konnte sie in dieser Situation absolut nicht gebrauchen. Während der Untersuchung stellte der Gynäkologe fest, dass Leni Gewalt angetan wurde und da Leni das zuerst nicht zugeben wollte, schickte er die Psychologin zu ihr ans Bett. Dort war inzwischen auch schon ihre fassungslose Schwiegermutter eingetroffen. Susanne von Moeltenhoff hatte ihrer ersten Schwiegertochter nicht geglaubt, als die sich bei ihr über Johannes beklagt hatte und von Vergewaltigungen sprach. Umso entsetzter war sie, als sie erfuhr, was er mit Leni gemacht hatte. Sie konnte das absolut nicht verstehen, denn die beiden schienen doch so glücklich miteinander gewesen zu sein. Sie hatte ihren Sohn bisher nie so oft lächeln sehen. Leni schien ihn irgendwie verzaubert zu haben. Die Psychologin hatte nach ihrem Gespräch mit Leni ihre Visitenkarte auf den Nachttisch gelegt, mit der Bitte, dass Leni und ihr Mann sich am besten gemeinsam bei ihr melden sollten. Einen Moment später war Leni dann mit einem Griff an ihren Kopf zusammengesackt. Während Leni sofort zum CT gebracht wurde, hatte Susanne Lenis Tasche, ihr Handy und die Visitenkarte an sich genommen, denn sie hatte schon geahnt, dass es etwas Ernstes war und dass Leni nicht auf die Gynäkologie zurückgebracht werden würde.***
Nachdenklich ging Johannes zur Intensivstation zurück. Was ist mit mir nicht in Ordnung? überlegte er. Ich bin doch mittlerweile erwachsen. Ist es möglich, dass der Dämon, von dem ich mich früher so oft bedroht fühlte, wieder zurückgekommen ist? Immer noch in Gedanken versunken saß er am Bett und betrachtete seine Frau. „Liebste Lene, du bist das Beste was mir je passieren konnte. Wie soll das mit uns weitergehen? Liebst du mich noch, nachdem was ich dir angetan habe?“ sprach er leise mit ihr. Er begann wieder ihren Bauch zu streicheln und spürte sofort die Bewegungen der Kinder. „Ich liebe euch und hoffe so sehr, dass wir eine glückliche Familie werden“, fuhr er fort und hoffte, dass seine Stimme Leni irgendwie erreichte. Er blieb wieder die ganze Nacht bei ihr am Bett sitzen, bis seine Mutter morgens kam und ihn nach Hause schickte. Als er am späten Nachmittag wieder in die Klinik kam, sagte ihm der Arzt, dass sie nochmals ein CT gemacht hätten und keine Blutungen mehr festgestellt werden konnten. Der Druck im Gehirn habe nachgelassen, so dass sie am nächsten Morgen anfangen wollten, die Sedierung runterzufahren um Leni langsam aufwachen zu lassen. Johannes nickte erleichtert. Der Arzt machten ihn aber darauf aufmerksam, dass wahrscheinlich mit neurologischen Störungen, wie etwa Sprach- oder Gleichgewichtsstörungen zu rechnen sei. Man werde aber sofort mit Rehabilitations-Maßnahmen beginnen, um die Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten. Nachdem der Arzt aus dem Raum gegangen war, überlegte Johannes, was für Beeinträchtigungen er wohl gemeint hatte und wie sich das auf das Leben von Leni auswirken würde. Was heißt so gut wie möglich? Wird sie behindert sein? fragte er sich. Wie sollte sein Leben weitergehen mit zwei Babys und einer behinderten Frau? Er seufzte verzweifelt und schüttelte den Kopf. „Oh Lene, Schätz-chen, bitte, bitte werde wieder gesund. Nicht für mich, aber für die beiden Kiddies. Die brauchen doch ihre Mutter“.***
Ausbruch vor 50
Missmutig und fröstelnd saß Claudia auf dem Sonnendeck ihrer Yacht, genauer gesagt, der Yacht ihres Schweizer Ehemannes Beat. Verächtlich schnaubte sie durch die Nase und brummelte vor sich hin: „Was heißt hier Sonnendeck? Wenn hier doch wenigstens mal die Sonne scheinen würde.“
Sie konnte die Vorliebe ihres Mannes für den Norden einfach nicht nachvollziehen. Als Tochter einer italienischen Mutter hatte sie früher alle ihre Urlaube unter südlicher Sonne verbracht. Ohne Sonne war es für sie einfach kein Urlaub.
Vor einigen Tagen hatten sie in Barth an der Ostsee angelegt und Beat gefiel dieses kleine gemütliche Städtchen, dem Claudia so gar nichts abgewinnen konnte. Die Restaurants hatten sie mittlerweile alle durchprobiert und selbst sie musste zugeben, dass es in der Regel sehr gut geschmeckt hatte. Die wenigen, wenn auch sehr geschmackvolle Geschäfte langweilten sie. Sie wusste einfach nichts mit sich anzufangen. Zum Lesen hatte sie keine Lust und als Beat eine Radtour, oder Velotour wie er es nannte, vorgeschlagen hatte, konnte sie sich auch dafür nicht begeistern. Gelangweilt schaute sie in die Ferne. Sowohl dieser beschauliche Ort mit dem grauen Wetter, als auch ihr stets auf ihr Wohl bedachter Ehemann, und vor allem die Enge auf dem Boot gingen ihr mächtig auf die Nerven. Sie überlegte ernsthaft ihre Sachen zu packen und in den Süden zu reisen.
Sie seufzte und fragte sich, welcher Teufel sie wohl geritten hatte, diesen Mann zu heiraten. Er verehrte und liebte sie, aber sie meinte, dass sie keinerlei Gefühle mehr für ihn hegte, und dass wohl sein Geld sie damals gereizt haben musste. Ihre Einsamkeit und die Vorstellung, nicht mehr arbeiten zu müssen, waren ein gutes Argument. Sie redete sich ein, dass sie das seinerzeit gedacht haben musste.
Claudia seufzte erneut und beschloss einen kleinen Spaziergang zu machen. Am Ende des Anlegers lagen einige Hausboote, die an Feriengäste vermietet wurden. Es war Samstag und damit Mieterwechsel auf einigen der Boote .Die neuen Mieter schlenderten über den Steg und begafften die dort liegenden Yachten und Segelboote. Claudia kam sich vor wie auf einem Präsentierteller. Wenn Beat an Bord war, grüßte er die Leute freundlich und beantwortete ihre Fragen gerne, aber ihr war das immer nur lästig. Sie ging hinunter in die Kajüte und zog sich um. Als sie den Steg entlang schlenderte, fiel ihr ein, dass am Wochenende das Tor geschlossen war, und Beat den Schlüssel mitgenommen hatte, als er zu seiner Radtour aufgebrochen war. Der Yachthafen war in das Gelände einer Werft integriert und wenn dort nicht gearbeitet wurde, war das Tor verschlossen.
„So ein Schwachsinn“, murmelte sie vor sich hin und ging wieder zurück, allerdings noch bedeutend schlechter gelaunt als auf dem Hinweg. Sie lief an ihrer Yacht vorbei bis an das Ende des Stegs. Ihr waren schon seit Tagen die Masten eines alten Schoners aufgefallen, hatte das Schiff aber für ein Museumsschiff gehalten. Sie blieb stehen und las das große Plakat, das an dem Schiff angebracht war. Dort wurden, von halbtags bis mehrtägig, verschiedene Touren auf dem alten Schiff angeboten. Sie nahm ihr Smartphone zur Hand und fotografierte das Plakat, denn sie wollte sich das später im Internet genauer ansehen.
Nachdenklich stand sie neben dem Schiff, als ein Mann an Deck erschien. Er war dunkelhaarig, schlank und sportlich, wirkte aber etwas ungepflegt. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Er sprach sie auf Englisch an und fragte, ob sie Interesse an einer Fahrt hätte.
„Bei schönerem Wetter gerne“, antwortete sie ohne zu überlegen. Sie wechselten noch ein paar Worte bis Claudias Handy klingelte. Sie verabschiedete sich freundlich und nahm das Gespräch an. Es war ihre fast gleichaltrige Cousine Chiara, die als junge Frau in eine Winzerfamilie in der Toskana eingeheiratet hatte. Claudia war froh jemanden gefunden zu haben, dem sie ihr Leid klagen konnte. Lebhaft auf Italienisch plaudernd schlenderte sie zu ihrer Yacht zurück. Sie berichtete wie sehr ihr alles auf die Nerven ging und der Norden einfach nur öde und langweilig sei, dass sie ständig fror und die Sonne vermisste. Chiara hörte ihr geduldig zu und meinte dann, dass sie wohl eine Auszeit bräuchte und jederzeit auf ihrem Weingut willkommen sei. Am Ende des ausgedehnten Telefonats versprach Claudia es sich zu überlegen. Chiaras turbulente Familie war immer noch besser als die Langeweile auf ihrem Boot. Allerdings hatte sie den Verdacht, dass Chiara auf zwei helfende Hände mehr bei der Weinlese hoffte, die sicher bald beginnen würde.
Beim Abendessen schlug sie Beat vor, eine Fahrt mit dem alten Schoner zu unternehmen. Sie hatte im Internet recherchiert und konnte ihm einiges über das Schiff berichten. Zunächst konnte er sich nicht dafür begeistern und meinte, dass sie doch mit ihrer Yacht rausfahren könnten, wenn sie Lust auf einen Turn hatte.
„Aber Beat, überleg doch, mit so einem alten Segelschiff, das ist doch etwas ganz anderes wie mit einer Motoryacht.“
Nach einigen Minuten des Diskutierens erklärte er sich bereit, sich das Schiff am nächsten Tag anzusehen. Claudia wusste, wenn sie ihn so weit hatte, dann würde er in Gegenwart des Eigners sicher einknicken und ihr diesen Wunsch erfüllen. Sie trank ein Glas Wein mehr als üblich, um ihn mit Liebe gefügig zu machen. Ohne Alkohol konnte sie einfach nicht mehr mit ihm schlafen.
Am Sonntag war der Schoner zu einer Ganztagstour unterwegs und so musste Claudia ihr Vorhaben vorerst verschieben. Dafür schien tatsächlich einmal die Sonne und sie unternahmen eine Ausfahrt mit ihrer Yacht. Während der Fahrt erzählte Claudia von Chiaras Anruf und dass sie eventuell in die Toskana zur Weinlese fahren wollte. Beat erklärte sich sofort bereit mit ihr dorthin zu fahren, aber das war ganz und gar nicht in ihrem Sinn. Sie wollte einfach ein paar Wochen ohne ihn verbringen, wusste aber nicht, wie sie ihm das begreiflich machen sollte. Nachdenklich saß sie an Deck und überlegte, wie sie aus dieser Misere wieder raus kam. Sie konnte ja nicht einfach ihre Sachen packen und vom Boot verschwinden, denn sie waren, ihrer Meinung nach, am Ende der Welt und sie hatte keine Ahnung, wie sie von dort wegkommen könnte.
Während der nächsten Stunde trank sie sich reichlich Mut an und eröffnete Beat schließlich, dass sie einfach mal eine Auszeit brauchte. Er sah sie zunächst entgeistert und dann nachdenklich an.
„Hab ich etwas falsch gemacht?“, wollte er wissen, was Claudia verneinte.
„Also, was ist los?“ Beat sah sie erwartungsvoll an.
Sie zuckte die Schultern. „Nichts ist los, aber ich brauche einfach mal etwas Zeit für mich alleine.“
Es folgte eine immer heftiger werdende Diskussion, die schließlich im Streit endete. Verärgert fuhr Beat nach Barth zurück und Claudia zog es vor in der Kajüte zu schmollen, obwohl er beim Anlegen ihre Hilfe gebraucht hätte.
Sie hatte ihm gegenüber immer öfters ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte nie sehr starke Gefühle für ihn gehegt und mittlerweile waren jegliche Gefühle für ihn erloschen. Da sie dies aber nicht zugeben wollte, zog sie es vor, wenn es hart auf hart kam, die Beleidigte oder Gekränkte zu spielen.
Nach dem Anlegen verließ Beat wortlos die Yacht und überließ Claudia sich selber. Er kam mit ihren Launen einfach nicht mehr klar. Auf den Ostseeurlaub hatte er sich gefreut, aber Claudia war vom ersten Tag an schlecht gelaunt gewesen und an diesem Tag hatte sie es seiner Meinung nach wirklich übertrieben. Er wusste, dass sie lieber Urlaub im Süden machte, aber ihn zog es nun mal von Zeit zu Zeit in den Norden.
Nachdem ihr Mann das Boot verlassen hatte, machte Claudia es sich wieder an Deck bequem. Sie legte sich in den Liegestuhl und hing ihren Gedanken nach. Sie fragte sich, warum sie einfach nie richtig glücklich war. Lag es an ihr oder an den anderen? Und der Gedanken, dass sie in wenigen Wochen fünfzig Jahre alt wurde, war ihr unerträglich.
Sie fröstelte und holte eine Decke um sich damit zuzudecken. Warm eingepackt ließ sie ihre Gedanken schweifen. Wann war sie das letzte Mal so richtig glücklich gewesen? Sie ging in Gedanken bis in ihre Kindheit zurück.
Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt, als Kind einer italienischen Mutter und eines deutschen Vaters, war sie zusammen mit ihrem Bruder Sandro in Weil am Rhein, direkt an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen. In der Familie ihrer Mutter ging es immer laut und lustig zu. Da die Großeltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren und schlecht deutsch sprachen, wuchsen sie und Sandro ebenso wie ihre Cousinen und Cousins zweisprachig auf.
Sie lächelte, als sie an ihre Großeltern dachte. Die Nonna war eine einfache, aber sehr warmherzige Frau gewesen und der Nonno hatte seine Enkelkinder ebenfalls sehr geliebt und entsprechend verwöhnt. Ihr Vater dagegen war immer etwas steif und zurückhaltend, was ihre Mutter manchmal zu Wutausbrüchen trieb.
Sie seufzte, als sie an die häufigen Streitereien zuhause dachte. Ihre Mutter wurde schnell wütend, war aber, im Gegensatz zu ihrem Mann, nie nachtragend.
Ihre Gedanken wanderten weiter zu ihrer Schulzeit. Sie hatte die Realschule besucht und war eine mittelmäßige Schülerin gewesen. Was ihr oft Mühe bereitet hatte waren Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer. Aber solange sie zur Schule ging, war ihre Welt vollkommen in Ordnung, vor allem weil sie die Sommerfeien immer in Italien verbrachten. Dort taute sogar ihr Vater etwas auf, so dass die Ferien meistens sehr harmonisch verliefen.
Sie seufzte tief, denn sie dachte daran, dass sie die total falsche Berufswahl getroffen hatte. Damit hatte eigentlich alles begonnen.
Sie erlebte mit, dass ihr Bruder während seiner Ausbildung neben der Arbeit im Betrieb auch noch zur Berufsschule gehen musste und dann auch noch zuhause viel zu lernen hatte. Deshalb beschloss sie, dass so eine Ausbildung für sie absolut nicht in Frage kam. Sie suchte eine Berufsausbildung, für die es eine Fachschule gab. Als dann eine ihrer Mitschülerinnen erzählte, dass sie PTA (Pharmazeutisch-technische Assistentin) werden und später in der Pharmaindustrie in Basel arbeiten wollte, war sie der Meinung, dass das genau das wäre, was sie suchte. Ihre Eltern hatten versucht ihr das auszureden, aber sie blieb stur. Die Schule in der Nähe hatte sie aufgrund ihrer schwachen Leistungen in Mathematik und Chemie abgelehnt. In Freiburg stellte man die Bedingung, dass sie im Abschlusszeugnis keine schlechteren Noten haben dürfe, wie bisher. Sandro hatte ihr geholfen und sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben täglich gelernt, um einen guten Schulabschluss zu schaffen. Glücklich hatte sie bei der Schulentlassung ihr Abschlusszeugnis in Empfang genommen, das tatsächlich besser ausgefallen war als die Zeugnisse zuvor.
Die Ausbildung war eine Qual für sie gewesen, denn sie fühlte sich von dem Lehrstoff total überfordert. Aber die Eltern bestanden darauf, dass sie sie durchzog. Hatte sie zunächst noch gedacht, dass sie auf der Fachschule ein lockeres Leben hatte, wurde sie sehr schnell eines Bessern belehrt. Ihr schwirrte oft der Kopf, vom vielen Lernen. Die größte Katastrophe war dann das Praktikum in einem pharmazeutischen Labor in Basel. Obwohl man es ihr mehrmals erklärte hatte, konnte sie weder das Integrationssystem für die HPLC-Anlage noch den Analysenroboter programmieren. Auch mit anderen Arbeiten, die etwas anspruchsvoller waren, hatte sie sich schwer getan. Schon nach kurzer Zeit hatten die Kollegen angefangen über sie zu reden, weil sie sich einfach zu dämlich angestellt hatte. Schlussendlich gab man ihr nur noch einfache Routinearbeiten. Der Einzige, der sich immer wieder bemühte ihr etwas zu erklären, war Patrick. An ihn wandte sie sich schon nach kurzer Zeit mit allen Fragen, die sie hatte und schließlich verbrachten sie die Mittagspausen miteinander. Den Traum von einer Anstellung in einem Labor gab sie nach dieser Erfahrung jedoch auf. Patrick hatte ihr angeboten, sie beim Lernen zu unterstützen, was sie gerne annahm. Sie hatten sich in der Regel ein bis zwei Mal pro Woche getroffen, um zu lernen. Kurz nach Beendigung ihres Praktikums begannen sie eine Beziehung.
Claudia seufzte erneut, denn sie hatte Patrick zwar sehr gemocht, aber trotzdem heimlich auf die große Liebe gewartet. Mittlerweile war sie der Meinung, dass es die große Liebe einfach gar nicht gab. Sie verliebte sich in der Regel schnell, aber ihre Gefühle ließen ebenso schnell wieder nach.
Als sie dann ihre Abschlussprüfung bestanden hatte, war sie mit Patrick zusammen gezogen. Sie hatte eine Anstellung in der Krankenhausapotheke in Lörrach gefunden und die beiden hatten sich dort eine kleine Wohnung gemietet. Aber bald schon hatte es angefangen zu kriseln. Aber statt ehrlich zu sein und in Frieden auseinanderzugehen, hatte sie die Pille abgesetzt, in der Hoffnung, dass ein Kind die Beziehung wieder kitten würde. Als sie dann einige Monate danach schwanger wurde, sah Patrick sich gezwungen sie zu heiraten. Zunächst waren sie tatsächlich wieder glücklich miteinander und freuten sich auf das Kind. Patrick war ein stolzer Vater, als der kleine Marco zur Welt gekommen war und für einige Zeit lebten sie harmonisch miteinander. Claudia ging in Elternzeit und fühlte sich endlich einmal nicht überfordert. Und sie gestand sich ein, dass sie zu der Zeit wirklich richtig glücklich war.
Patrick war ein wunderbarer Vater, was sie dazu verleitete, nochmals schwanger zu werden. Er war zunächst sauer gewesen und hatte ihr vorgeworfen ihn schon wieder reingelegt zu haben, aber als dann knapp zwei Jahre nach Marco die kleine Gina zur Welt kam, schien ihr Glück vollkommen zu sein. Patrick hatte zu der Zeit ein berufsbegleitendes Studium begonnen, das bedeutete, dass er freitags und samstags zum Unterricht nach Zürich fuhr. Unter der Woche beschäftigte er sich nach dem Abendessen mit den Kindern bis sie zu Bett mussten, so dass Claudia Zeit für den Haushalt hatte. Danach lernte er stundenlang, und Claudia schlief meistens schon, wenn er zu Bett kam. Als Patrick dann befördert wurde, dachte Claudia, dass sie nie mehr arbeiten gehen müsste. Aber zu ihrer großen Enttäuschung war er damit nicht einverstanden, denn er träumte von einem eigenen Haus, und das ging nur, wenn sie nach der Elternzeit auch wieder arbeitete. Schweren Herzens hatte sie die Kinder in die Kita gegeben und wieder in der Krankenhausapotheke gearbeitet. Von da an war sie immer launischer geworden, da sie der Mehrfachbelastung nicht gewachsen war und sich erneut ständig überfordert gefühlt hatte. Auch gefiel ihr die Arbeit ganz und gar nicht. In ihrer Beziehung kriselte es immer stärker und noch bevor sie ihren Traum vom Eigenheim verwirklichen konnten, zog Patrick aus, da er seit einiger Zeit eine neue Partnerin hatte.
Mit Wehmut dachte Claudia an die Zeit zurück, als sie mit den Kindern zuhause und glücklich war. Sie gestand sich zwar ein, dass der gelegentliche Sex nur noch Routine war, aber dass er sie betrogen und mit den beiden kleinen Kindern sitzen gelassen hatte, das versetzte ihrem so schon geringen Selbstbewusstsein einen mächtigen Dämpfer.
Nie hätte sie bis dahin gedacht, dass sie ihr Leben als alleinerziehende Mutter würde verbringen müssen. Bis zum Scheidungstermin hatte sie immer noch gehofft, dass Patrick zu ihr und den Kindern zurückkommen würde. Sie hatte oft geweint, wenn er die Kinder abgeholt hatte und ihn auch mehrmals angefleht, zu ihr und den Kindern zurückzukommen. Als die Scheidung nach dem Trennungsjahr dann vollzogen wurde, hatte sie so heftig geweint, dass ihre Anwältin sie kaum beruhigen konnte. Was sie aber dennoch freute war die Tatsache, dass Patrick ihr die Hälfte des Geldes, das sie für ihr Haus angespart hatten, auszahlen musste. Das hatte er ihr lange nicht verziehen. Wegen der Kinder verhielten sie sich bei ihren Begegnungen freundlich aber distanziert. Trotzdem hatte sie immer noch gehofft, dass er seine Kinder vermissen und zu ihr zurückkommen würde. Von dem Geld hatte sie sich einen fast neuen Kleinwagen gekauft, um mobil zu sein. Den Rest hatte sie für die Kinder angelegt.
Um in der Nähe der Eltern zu sein, zog sie wieder nach Weil am Rhein. Dort fand sie auch bald eine Stelle in einer Apotheke, wenige Meter von der Grenze zur Schweiz entfernt. Ihre Mutter arbeitete vormittags weiter als Frisörin und nachmittags kümmerte sie sich um die Enkelkinder.
Sie dachte auch daran, dass Patrick immer ein guter Vater gewesen war und seine Kinder regelmäßig jedes zweite Wochenende abgeholt hatte und auch mit ihnen in den Urlaub gefahren war. Im Sommer allerdings verbrachte sie jedes Jahr mehrere Wochen mit den Kindern, die ebenfalls zweisprachig aufwuchsen, in Italien. Zunächst besuchten sie Verwandte und dann verbrachten sie noch eine Woche am Meer.
Nach der Trennung von Patrick hatte sie hin und wieder mal eine Beziehung, aber der Richtige war einfach nicht zu finden. Sie war unzufrieden mit sich und ihrem Leben gewesen und sie musste im Nachhinein gestehen, dass sie das auch manchmal an ihren Kindern ausgelassen hatte. Der Job in der Apotheke war nicht unbedingt ihr Traumjob, gefiel ihr aber besser als der vorherige im Krankenhaus. Meistens erledigte sie Routinearbeiten und war selten im Verkaufsraum, da sie sich in der Kundenberatung zu unsicher gefühlt hatte.
So war ihr Leben ohne große Höhen und Tiefen verlaufen, die Kinder machten keine großen Probleme und waren gute Schüler. An den Wochenenden, die die Kinder bei ihrem Vater verbrachten, war sie zunächst mit ihren Freundinnen in die Disco, einen Club oder sich sonst wo amüsieren gegangen. Aber im Lauf der Zeit hatten die alle einen festen Partner oder Familie und irgendwann war sie sich selbst überlassen.
Je mehr sie über ihr ihrer Meinung nach verkorkstes Leben nachdachte, umso schwermütiger wurde sie und der Gedanke an ihren fünfzigsten Geburtstag erfüllte sie mit Grauen. Sie fühlte, dass sie einen Entschluss fassen musste, hatte aber Angst davor, schon wieder alles falsch zu machen. Ihre Laune war auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt, als Beat auf das Boot zurückkam.
Beat merkte schnell, dass sie immer noch schlecht gelaunt war, fragte aber doch, ob sie mitkäme, um eine Kleinigkeit zu essen. Da sie keine Lust zum Kochen hatte, willigte sie ein. Normalerweise kochte sie gerne und Beat liebte ihre italienische Küche. Wenn sie mit der Yacht unterwegs waren, gab es allerdings nur einfache Sachen oder sie gingen Essen.
„Verdammt nochmal Claudi, was ist los?“ fragte er als sie Platz genommen hatten, da sie während des ganzen Weges bis zum Restaurant keinen Ton gesagt hatte.
Missmutig zuckte sie die Schultern. „Nichts ist los.“ Nach einigen Sekunden des Schweigens fügte sie leise hinzu: „Hör zu Beat, ich möchte meinen Geburtstag auf keinen Fall feiern. Am besten vergessen wir, dass ich überhaupt Geburtstag habe.“
Beat lachte so laut, dass sich die anderen Gäste zu ihnen umsahen. „Hast du etwa Panik, weil du fünfzig wirst?“
„Da gibt es überhaupt nichts zu lachen“, erwiderte sie heftig.
Er fasste ihre Hand, was sie widerwillig geschehen ließ.
„Schätzli, das ist doch nicht schlimm. Ich dachte schon wunder was ich falsch gemacht habe. Irgendwie beruhigt es mich, dass es dein Geburtstag ist, der dir Kopfzerbrechen bereitet und nicht ich.“
Er lächelte sie immer noch belustigt an. Claudia hätte schreien können, dass er sie endlich in Ruhe lassen solle und dass sie ihn einfach nicht mehr ertragen konnte. Aber sie beherrschte sich und kaute stattdessen an ihrer Unterlippe während sie die Speisekarte studierte.
Während des Essens waren sie beide in ihre Gedanken vertieft, denn Beat hatte tatsächlich schon, gemeinsam mit seiner Schwiegermutter und seinem Schwager, einiges für ihren Geburtstag organisiert. Sie wollten sie mit einem Riesenfest überraschen und er überlegte jetzt, ob sie alles wieder absagen sollten. Er beschloss, mit ihrer Mutter darüber zu reden, die kannte ihre Tochter am besten.
Währenddessen überlegte Claudia, wie sie von ihm fortkam, ohne ihn zu sehr zu verletzen.
Auf dem Rückweg fiel ihr an einem Haus ein Schild mit einem Hinweis auf eine freie Ferienwohnung auf, und sie blieb kurz stehen, um es zu lesen. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag dort vorbei zu gehen, denn sie konnte die Enge auf dem Boot einfach nicht mehr ertragen. Zu dumm nur, dass Beat sie normalerweise überallhin begleitete. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Schweigend gingen sie weiter, aber Beat war ihr Zögern aufgefallen und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Er verstand sie einfach nicht mehr. Mehr noch, er gestand sich ein, dass er sie noch nie so richtig verstanden hatte. Es war ihm stets bewusst gewesen, dass er sie schon immer mehr geliebt hatte, als sie ihn. Er hatte aber gedacht, dass er das aushalten könnte. Auch hatte er gespürt, dass sie sich in der letzten Zeit immer mehr von ihm zurückgezogen hatte.
Auf dem Boot angekommen packte er den Stier bei den Hörnern: „Liebst du mich noch Claudia?“ fragte er und sah ihr direkt in die Augen.
Sie senkte den Blick, zuckte wieder nur mit den Schultern und fragte sich, wieviel Ehrlichkeit er wohl vertrug. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie leicht.
„Verdammt noch mal, sei wenigstens ehrlich zu mir“, brüllte er sie an.
Claudia erschrak, so war er noch nie mit ihr umgegangen und ein paar Tränen stahlen sich in ihre Augen. Sie wusste, dass er bei Tränen immer schwach wurde. Aber dieses Mal blieb er hart und bestand auf einer Antwort.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. Sie fühlte sich in die Enge getrieben.
Resigniert ließ Beat die Arme hängen und ließ sie wortlos stehen.
Als Claudia sich ein Glas Wein eingießen wollte, fragte er, ob sie denn im Restaurant nicht schon genug Alkohol getrunken hätte. Wie eine Furie schoss sie zu ihm herum, warf die Flasche nach ihm, die ihn knapp verfehlte und am Boden zerschellte.
„Hör endlich auf mich zu kontrollieren und zu kommandieren“, schrie sie. „Ich hab es verdammt noch mal satt. Claudi tu dies, Claudi tu das nicht. Lass mich einfach in Ruhe!“
Sie rannte davon und packte, am ganzen Leib zitternd, ihre Sachen ein. Als sie die Yacht verlassen wollte, hielt Beat sie am Arm zurück, aber sie riss sich los und stolperte mit ihrem Rollkoffer in der Hand auf den Steg. Sie wusste, dass das Tor schon geschlossen war, aber irgendjemanden würde sich schon finden, der ihr aufschloss, dachte sie. Und sie hatte Glück, denn der Eigner des Schoners kam ihr, frisch geduscht, aus dem Sanitärtrakt entgegen. Er duftete herrlich und Claudia lächelte ihn an. So ganz nah, fand sie ihn unwiderstehlich. Sie fragte ihn nach dem Schlüssel für das Tor, was er bejahte. Er begleitete sie und sie erzählte ihm, dass sie abreisen würde, was er schade fand. Er sagte, er hätte gehofft, dass sie eine Tour mit ihm machen würde. Sie sahen sich tief in die Augen und sie versprach ihm, dass sie sich melden würde.
Sie ging bis zu dem Haus, das sie vorher gesehen hatte und mietete sich die Ferienwohnung. Sie fühlte sich sofort wohl, in der gemütlichen Zwei-Raum-Wohnung. Die Anrufe ihres Mannes drückte sie jedes Mal weg und schaltete dann ihr Smartphone ganz aus.
Schlaflos wälzte sie sich im Bett, mal hatte sie den Skipper vor Augen, mal wieder Beat. Dann dachte sie daran, wie sie sich kennengelernt hatten.
Leseprobe: Spring über deinen Schatten
Was für ein Anblick!
Adrian begleitete seine junge Patientin und ihre Mutter, die kaum deutsch sprach, zur Rezeption, um sicherzustellen, dass sie einen Termin für die zweite Impfung ihrer Tochter bekam. Als er am Wartezimmer vorbei kam warf er einen kurzen Blick hinein und blieb fasziniert stehen. Vor dem Fenster, beschienen von einem Sonnenstrahl, der sich durch den sonst trüben Februarhimmel gestohlen hatte, glänzten drei Blondschöpfe in verschiedenen Schattierungen. In der Mitte sah man den rotblonden Kopf einer Frau, die ihr Haar zu einem etwa kinnlangen Bob geschnitten trug. Auf ihrem rechten Bein saß ein kleiner hellblonder Junge, dessen etwas welliges Haar am Oberkopf länger und im Nacken kurz geschnitten war. Er kuschelte sich an seine Mutter und hörte aufmerksam zu, was sie vorlas. Auf ihrem linken Bein zappelte ein kleines Mädchen mit einem dunkelblonden Lockenkopf. Das schulterlange Haar wurde an den Seiten mit mehreren kleinen bunten Spangen aus dem Gesicht gehalten.
Adrian schätzte das Alter der Kinder auf etwa drei und vier Jahre. Als er sich endlich von diesem Anblick losreißen konnte, ging er weiter zur Rezeption und veranlasste dass die Migrantin den Termin bekam und fragte dann, wie er meinte, beiläufig wer denn die Frau mit den beiden Kindern im Wartezimmer sei.
Die Angestellte an der Rezeption zuckte die Schultern und meinte: „Keine Ahnung, die sind neu, die kommen zum Durchchecken und Impfen.“
„Schicken Sie sie doch bitte zu mir rein“, forderte Adrian sie auf.
„Ja, aber zuerst kommt Oskar …“, wollte sie Adrian auf einen Patienten aufmerksam machen, der zuerst an der Reihe gewesen wäre.
Adrian unterbrach sie und bat nochmals, diesmal mit einem charmanten Lächeln: „Frau Heidrich, rufen Sie bitte zuerst die Frau mit den beiden kleinen Kindern in mein Sprechzimmer, das kleine Mädchen scheint sehr ungeduldig zu sein. Den anderen Patienten kann der Kollege machen.“
„Normalerweise machen wir das aber nicht so“, grummelte sie. „Das mag der Chef ganz und gar nicht.“
„Sie müssen es ihm doch nicht erzählen“, scherzte Adrian und verschwand kurz in der Personal-Toilette.
Als Adrian in sein Sprechzimmer zurückkam saß die Frau mit den beiden Kindern vor seinem Schreibtisch. Wie schon im Wartezimmer kuschelte der Junge sich rechts an ihre Seite, während das Mädchen auf den linken Stuhl geklettert war und die Beine ungeduldig baumeln ließ.
„Guten Tag, ich bin Doktor Bräuer“, stellte er sich freundlich lächelnd vor. „So, wen haben wir denn da?“ Adrian sah auf seinen Bildschirm und versuchte sich zurechtzufinden. Entschuldigend sagte er: „Sorry, wir haben einen personellen Engpass und ich muss erst mal sehn, wo es hier weitergeht.“ Als er die richtige Seite gefunden hatte schaute er kurz zur Mutter auf und fragte: „Was führt Sie zu mir Frau von ….“, er sah nochmals auf den Bildschirm.
„Kaiser, einfach nur Frau Kaiser“ unterbrach die Frau ihn. „Meine Kinder heißen von Moeltenhoff, nach ihrem Vater“, korrigierte sie ihn lächelnd.
„Hm, ja, ach so, ja“, antwortete Adrian etwas verwirrt während er überlegte: geschieden oder wie das heute modern ist, gewollt allein erziehend?
„Wir kommen zum Impfen. Und könnten Sie die beiden vielleicht noch kurz durchchecken?“
Adrian hatte sich wieder gefangen. „Ja gut, das machen wir. Wer will denn zuerst?“ Er sah auffordernd lächelnd von einem Kind zum anderen, aber die rührten sich beide nicht.
„Na dann sag ich doch mal Ladies first“, er lächelte das Mädchen an. „Kommst du zu mir?“
„Wie heißt du denn?“ versuchte er die Kleine, die zögernd auf ihn zuging, aus der Reserve zu locken.
„Cora.“
„Das ist aber ein schöner Name. Und weiter?“
Das Mädchen lächelte ihn verschmitzt an und antwortete: „Klamotte.“
Adrian sah erst die Tochter dann die Mutter verwirrt an.
„Ach Cora, komm, hör auf mit dem Quatsch, wie heißt du noch?“, sprach die Mutter ihre Tochter ernst aber trotzdem liebevoll an.
„Salotte“, kam dann die etwas bockige Antwort.
„Sie meint Charlotte“, sagte die Mutter und schüttelte leicht den Kopf.
Adrian nickte lächelnd und zur Mutter gewandt bat er dann: „Könnten Sie ihr bitte den Pullover ausziehen und sie auf die Liege setzen?“
Als das Mädchen saß fragte Adrian: „Na kleine Prinzessin, hast du Angst vor dem Onkel Doktor?“
Das Mädchen schaute ihn erstaunt mit großen Augen an und fragte dann leise: “Papa?“
„Oh, das hat bis jetzt aber noch kein Kind zu mir gesagt“, meinte Adrian nach einem kurzen Moment der Verwirrung lachend.
Die Mutter strich dem Kind liebevoll über das Haar, küsste es sanft auf den Kopf und sagte dann leise: „Cora, meine Süße, das ist nicht der Papa. Ich hab euch doch gesagt, wo der Papa ist.“
„Cora, du Dummkopf, unser Papa ist doch im Himmel“; mischte sich der kleine Junge im Hintergrund altklug ein.
Adrian sah die Mutter fragend an und die erklärte leise: „Sie hing sehr an ihrem Vater und vermisst ihn schmerzlich. Seit mein Mann verstorben ist, spricht sie immer wieder Männer an. Allerdings ist es das erste Mal, dass sie auch einen dunkelhaarigen Mann als Papa bezeichnet.“
Er schaute in die schönen grünen Augen der Mutter, sah wie sie sich mit Tränen füllten und wünschte sich, dass er etwas tun könnte, damit sie nicht weinen müsste. Am liebsten hätte er sei einfach umarmt. Nach einem Moment hatte er sich wieder gefasst und sagte; „Das tut mir leid.“ Mehr fiel ihm einfach nicht ein und er begann sorgfältig das Mädchen zu untersuchen.
„Wie alt bist du denn?“, fragte er und sie hielt ihm drei erhobene Finger hin.
„Sie ist zwar sehr zierlich aber topfit“, meinte er nach Abschluss der Untersuchung. Er sah zur Mutter und stellte fest, dass eine leichte Röte deren Gesicht bedeckte.
„So Prinzessin, dann wollen wir dich mal impfen“, sprach er Cora wieder an. Er nahm eine der Spritzen, die die Assistentin schon vorbereitet hatte, zur Hand. „Jetzt gibt es einen kleinen Piecks, und das war’s dann schon.“ Er setzte die Spritze und lobte seine kleine Patientin: „Gut hast du das gemacht. Jetzt darfst du dir noch ein kleines Pflaster aussuchen.“ Adrian klebte das rosa Pflaster, das Cora sich ausgesucht hatte auf die Einstichstelle und hob sie von der Liege.
„So junger Mann, dann wollen wir mal“, sprach er den Jungen an. „Wie heißt du denn?“
„Viktor.“ Nach einem kurzen Blick auf die Mutter sprach er mit ihrer Unterstützung weiter: „Misael von Moeltenhoff“.
„So, aha, Viktor Michael. Schön, und wie alt bist du?“
„Drei“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Adrian sah die Mutter fragend an und wollte wissen wie weit die beiden denn altersmäßig auseinander seien.
Die Frau lächelte, denn das wurde sie oft gefragt, weil Viktor größer und wesentlich kräftiger gebaut war als seine Schwester. Adrian gefiel dieses zarte Lächeln, das ihre kleinen ebenmäßigen Zähne sehen ließ.
„Eine Stunde und zwanzig Minuten“, antwortete sie. „Die beiden sind Zwillinge.“
„Oh, das hätte ich jetzt nicht gedacht“, gestand Adrian und begann den Jungen zu untersuchen. Beim Abhören stutzte er und wollte wissen, ob das Kind beim Laufen kurzatmig wäre.
„Hm, das ist mir bis jetzt nicht aufgefallen, aber er ist viel behäbiger wie Cora. Man sieht ihn kaum mal rennen.“ Sie sah den Arzt ernst an und fragte, ob etwas nicht in Ordnung wäre und berichtete, dass Viktor nach der Geburt, obwohl er größer und schwerer war, einige Tage länger im Inkubator bleiben musste als seine Schwester, da er Probleme mit dem Atmen gehabt hatte.
„Hm, ja, ich finde er atmet etwas zu flach. Wurde seine Lunge schon mal geröntgt?“
Nachdem die Mutter verneint hatte, testete er das Lungenvolumen des Jungen und veranlasste dann, dass er geröntgt wurde. Er rief die Assistentin in sein Sprechzimmer und bat sie die Röntgenaufnahme von der Lunge des Jungen zu machen.
Frau Heidrich war eine Frau von ungefähr 50 Jahren und ließ sich von so einem jungen Arzt nicht unbedingt gerne was sagen. Adrian musste jedes Mal seinen ganzen Charme spielen lassen, von dem er zum Glück nicht wenig besaß, wenn er etwas von ihr wollte. Deshalb versprach er ihr, in der Zwischenzeit Oskar, der immer noch im Wartezimmer saß, zu behandeln.
„So, dann wollen wir mal sehn.“ Adrian hatte auf dem Bildschirm die Röntgenaufnahmen aufgerufen und betrachtete sie genau. „Also die Lunge ist an sich unauffällig. Deshalb rate ich Ihnen, gehen Sie mit dem Jungen zur Kur an die See, damit er lernt, richtig einzuatmen.“
Die Mutter schüttelte leicht den Kopf und sagte: „Das geht nicht, ich kann jetzt wirklich nicht weg. Ich habe letzten Monat erst wieder angefangen zu arbeiten. Ich bin nach Weihnachten hier nach Freiburg zurückgekommen und bin froh, dass ich einen guten Job gefunden habe.“
„Hm, ja, ich verstehe. Dann probieren wir erst mal was andres.“ Er bat Viktor nochmals zu sich und demonstrierte ihm Atemübungen, die er regelmäßig zuhause machen sollte. „Machen Sie diese Übungen mehrmals täglich mit ihm, am besten an der frischen Luft oder am offenen Fenster. Er muss sich angewöhnen, richtig tief einzuatmen, damit die ganzen Lungenflügel und Bronchien gefüllt werden. Er sollte dann eigentlich etwas agiler werden, wenn er ausreichend Sauerstoff bekommt. Er muss ja nicht gleich so ein Zappelphilipp werden, wie die kleine Prinzessin.“ Er sah Cora lächelnd an und stellte fest, dass sie die gleichen grünen Augen wie ihre Mutter hatte. Er fuhr an die Mutter gewandt fort: „Wir sehen uns in vier Wochen zur zweiten Impfung wieder und dann schauen wir, wie es bis dann mit dem Lungenvolumen aussieht.“ Er impfte den Jungen ebenfalls, begleitete die Familie bis zur Tür und wollte sich mit einem warmen Lächeln von den dreien verabschieden.
Viktor sah den Arzt mit seinen großen graublauen Augen ernst an und fragte: „Kannst du machen, dass die Mama nicht mehr so viel weint?“
Adrian sah die Mutter an, die aber verlegen den Blick senkte. Schon wieder hatte er das Bedürfnis sie einfach in den Arm zu nehmen. Er beugte sich dann zu dem Jungen runter, legte ihm die Hand auf die Schulter und erklärte in sanftem Ton: „Na ja, weißt du, ich bin Kinderarzt und da kann ich nicht viel machen. Aber ihr beide könnt doch ganz lieb zu der Mama sein und sie etwas ablenken, spielt mit ihr und fordert sie auf mit euch auf den Spielplatz zu gehen. Jetzt hat sie ja auch einen Job, das hilft ihr ganz sicher.“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach: „Ich denke, das wird schon wieder, sie braucht halt noch etwas Zeit. Ihr seid doch sicher auch traurig darüber, dass der Papa nicht mehr da ist, oder?“
Beide Kinder nickten daraufhin. Als die Mutter mit den Kindern aus der Tür gehen wolle, fragte Cora plötzlich: „Gibst du mir ein Gummibärchen?“
„Cora! Du sollst doch nicht betteln“, wies die Mutter sie zurecht.
Adrian schaute zu seinem Schreibtisch, auf dem ein mit Gummibärchen und sonstigen Gelatinefrüchten gefülltes Glas stand. „Oh, da hast du aber gleich meinen Schwachpunkt erkannt, ich sollte das Glas natürlich nicht so rumstehen lassen“, gestand Adrian leicht verlegen. Er hielt den Kindern das Glas hin, die sich jeweils ein Bärchen rausnahmen und sich brav bedankten.
Während der nächsten Wochen ging Adrian diese junge Frau und ihre beiden Kinder nicht aus dem Kopf. Er fand es gut wie liebevoll und trotzdem konsequent sie mit ihren Kindern umging. Aber vor allem, sie gefiel ihm, ihr zartes Gesicht mit den grünen Augen sah er immer wieder vor sich. Und er dachte sich, dass er sie bitten würde ihr wunderschönes Haar lang wachsen zu lassen, falls sie seine Freundin wäre. Dann stellte er sich vor wie sie aussehen würde, ihr zarter Körper mit nichts anderem an wie nur diesem wunderschönen langen goldenen Haar um die Schultern. Da bremste er seine Gedanken und sagte zu sich selber: „Verdammt, dich hat es aber ganz schön erwischt, Alter!“
Er konnte den Tag, an dem sie wieder in seine Praxis kommen sollte kaum erwarten, und war zunächst glücklich, als er sie dann wieder im Wartezimmer sitzen sah. Umso enttäuschter war er, als er feststellte, dass die Kinder dieses Mal von seinem Chef behandelt wurden. Als er Frau Heidrich darauf ansprach, zuckte diese, wie so oft, mit den Schultern und meinte schnippisch: „Ich kann ja nicht alle junge Frauen zu Ihnen schicken.“
Leicht verärgert schüttelte Adrian den Kopf und sagte: „Wenn ich aber eine Behandlung angefangen habe, dann möchte ich die auch weiterverfolgen. Wie sieht es denn mit dem Lungenvolumen von dem Kleinen aus?“ Er rief die entsprechende Seite im PC auf und stellte fest, dass sein Chef das Lungenvolumen gar nicht geprüft hatte. „Ja super, das ist ja gar nicht gemacht worden“, meinte er genervt. Er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Erstens betrachtete er es als wichtig, dass die Lunge des Jungen regelmäßig überprüft wurde, außerdem ging ihm die Mutter des Jungen immer noch nicht aus dem Kopf. Zu dumm nur, dass er seinem Vorgesetzten bei der Einstellung versprechen musste, dass er nichts mit den Müttern ihrer Patienten anfangen würde. Dass er noch jung und ledig war, und vor allem gut aussah, gefiel dem nämlich gar nicht. Aber es hatte sich sonst kein fähiger Kinderarzt auf seine Annonce hin beworben und die Referenzen von Adrian waren überzeugend.
Adrian bat Frau Heidrich, bei Frau Kaiser anzurufen und einen Termin für die Untersuchung des Jungen zu vereinbaren. „Dieses Mal notieren Sie aber bitte, dass der Kleine zu mir kommt. Haben Sie mich verstanden?“ Die angesprochene grummelte vor sich hin und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
Nach einer gescheiterten Beziehung hatte Adrian sich entschlossen seine Heimatstadt Heidelberg und die dortige Kinderklinik zu verlassen und hatte sich deshalb auf die Annonce, in der für eine Kinderarztpraxis in Freiburg ein zweiter Arzt gesucht wurde, beworben. Er fand, dass es Zeit für einen Neustart war und freute sich, als er tatsächlich den Zuschlag bekam. Die Arbeit in einer Praxis war neu für ihn, aber die geregelten Arbeitszeiten hatten ihn gelockt. Er war noch in der Einarbeitungsphase und hatte manchmal das Gefühl, dass sein Chef ihn nicht für voll nahm und Frau Heidrich ließ in das so richtig spüren. Sie war eine erfahrene und zuverlässige Fachkraft, und hielt nicht mit der Meinung hinter dem Berg, dass die Praxis ohne sie nicht laufen würde. Aber im Großen und Ganzen fühlte Adrian sich wohl in Freiburg. Zudem hatte er eine schöne Wohnung gefunden, von der aus er die Praxis in wenigen Minuten zu Fuß erreichen konnte. Was ihm zu seinem Glück noch fehlte, war eine neue Partnerin.
Kapitel 2
Leni stand am Grab ihres verstorbenen Mannes und legte drei rote Rosen, die sie mit einem roten Band auf einen kleinen Tannenzweig gebunden hatte, auf das Grab. Es war Anfang Dezember, genau ein Jahr nach seinem Freitod.
Sie holte tief Luft und spürte die Tränen, die in ihren Augen aufstiegen. Sie konnte gar nicht sagen, wie viele Tränen sie schon wegen Johannes vergossen hatte. Zunächst weil er nichts von ihr wissen wollte und dann auch noch wegen einer anderen Frau nach Hamburg gezogen war. Und immer wieder während ihrer kurzen Ehe, die zu ihrem Bedauern nicht so glücklich verlaufen war, wie sie sich das beide gewünscht hatten. Von seinen psychischen Problemen hatte sie zunächst keine Ahnung gehabt. Die machten sich zum ersten Mal kurz vor der Geburt ihrer Zwillinge bemerkbar. Zu Beginn schien eine ambulante Therapie zu helfen, bis Johannes ein gutes halbes Jahr später eine Studentin vergewaltigte und sich das Leben nehmen wollte. Es folgte ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung, der ihm aber keine große Hilfe war, denn dort wurde er nur mit Psychopharmaka vollgepumpt und ruhiggestellt. Deshalb beschloss Leni, unterstützt von Maximilian, dem von allen nur Max genannten Halbbruder Johannes‘, auf den Gutshof der Schwiegereltern ins Münsterland zu ziehen. Max fand in einer Einrichtung in der Nähe einen Therapieplatz für seinen Bruder. Leni, die von Beruf Architektin war, füllte ihre Tage damit aus, dass sie ein Haus für ihre Familie auf dem Grundstück der Schwiegereltern baute.
Die beiden Kinder Cora und Viktor entwickelten sich gut und genossen das Landleben zusammen mit ihrer fast gleichaltrigen Cousine Leonie und den drei etwas älteren Cousins, den Kindern von Johannes‘ Schwester Gabi. Außerdem wurden sie von den Großeltern geliebt und verwöhnt.
Kurz vor der Entlassung aus der Therapie bekam Johannes ein Angebot von einem Fernsehsender in Hamburg. Die Familie pendelte von da an mehrere Tage pro Woche nach Hamburg, wo sie in dem Haus von Henrik, einem langjährigen Freund von Johannes, eine kleine Wohnung gemietet hatten. Allerdings beeinträchtigte das Medikament, das Johannes nehmen musste, seine Libido und somit auch ihr Eheleben und beide waren nicht unbedingt glücklich. Da Johannes irgendwie unberechenbar geworden war, und manchmal auf Kleinigkeiten mit heftigen Wutausbrüchen reagierte, hatte Leni im Hinterkopf stets die Angst vor einem erneuten Ausraster seinerseits. Ein Urlaub an der Nordsee und eine Anpassung der Dosierung seines Medikaments schienen eine Wende gebracht zu haben, sie schliefen wieder öfter miteinander und fühlten sich wie neu verliebt. Und so kamen sie vor Glück strahlend wieder im Münsterland an. Leni glaubte, dass jetzt endlich alles wieder im Lot war, bis eine Moderatorin sich an Johannes ran machte und ihn total aus dem Gleichgewicht brachte, was mit seinem Freitod vier Wochen nach dem zweiten Geburtstag der Kinder endete.
Nachdem sie sich die traurige Geschichte ihrer Beziehung mit Johannes nochmals durch den Kopf hatte gehen lassen, hielt sie, immer wieder von Schluchzern unterbrochen, Zwiesprache mit ihm: „Liebster Jo, was ist nur mit dir passiert, dass du mit deinem Leben nicht zurechtgekommen bist und das stärker war wie unsere Liebe?“ Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr sie fort: „Du hast mir geschrieben, dass ich mein Leben leben soll, und das werde ich jetzt tun. Ich werde dich niemals vergessen können. Ein ganzes Jahr lang habe ich um dich geweint und. das kann einfach nicht so weitergehen. Ich gehe hier zugrunde und unsere Kinder brauchen mich. Deine Familie ist zwar sehr lieb zu mir, aber täglich ist immer nur die Rede von dir. Ich komme mir vor wie ein Schmetterling in seinem Kokon, der jetzt ausschlüpfen muss, um seine Flügel entfalten zu können. Deshalb werde ich zurück nach Freiburg gehen, auch wenn das ein starker Einschnitt in das Leben unserer Kinder sein wird.“
Sie hielt einen Moment inne, weil die Tränen überhandnahmen und sprach nach dem sie sich wieder beruhigt hatte leise weiter: „Ich kann in unserem Haus einfach nicht mehr leben, alles erinnert mich an dich. Ich weiß echt noch nicht wie ich das deiner Familie beibringen soll, aber mein Entschluss steht fest und ich habe schon fast alles geregelt.“
Sie blieb noch einige Minuten schweigend am Grab stehen bevor sie sich weinend von ihrem Mann verabschiedete. Sie fuhr nachdenklich nach Hause. Dort setzte sie sich im Gästezimmer auf die Bettkante und zog langsam ihren Verlobungsring und ihren Ehering von den Fingern. Dann legte sie die goldene Halskette ab, an der sie den Ehering von Johannes trug. Nur den Ring mit den beiden blauen und roten Steinen, den Johannes ihr nach der Geburt der Zwillinge an den Finger gesteckt hatte, behielt sie an. Nachdenklich betrachtete sie die Gravuren in den beiden Trauringen: ′Auf ewig Deine Kaiserin′ und ′In Liebe, Jo′.
Sie dachte daran, wie glücklich sie beide bei ihrer kirchlichen Trauung waren und dass sie nie auf die Idee gekommen wäre, dass dieses Glück von so kurzer Dauer sein sollte. Es kam ihr in den Sinn, dass sie ihren Mann nicht nur geliebt, sondern am Anfang regelrecht vergöttert hatte, und sie fragte sich, ob sie wohl deshalb so sehr enttäuscht von ihm war, als seine psychischen Probleme immer stärker wurden, er aber nicht bereit war, darüber zu sprechen. Er hatte sich weder ihr noch seinen Therapeuten anvertraut. Sie erinnerte sich auch an den tollen Sex, den sie zu Beginn ihrer Beziehung und ihrer Ehe gehabt hatten. Johannes konnte ohne Mühe mehrmals täglich mit ihr schlafen, und obwohl er während ihrer Schwangerschaft oft sehr behutsam war, hatten sie sich doch leidenschaftlich geliebt. Sie seufzte tief und fragte sich, ob sie jemals wieder in der Lage sein würde mit einem Mann zu schlafen.
Leni ließ die Ringe und die Kette in ein kleines rotes Tüllsäckchen gleiten und legte dieses Säckchen bedächtig auf den Boden ihrer Schmuckschatulle zu dem Abschiedsbrief, den Johannes ihr geschrieben hatte. Am Anfang hatte sie diesen Brief unzählige Male gelesen, bis sie gemerkt hatte, dass ihr das nicht guttat. Sie zögerte einen Moment, ließ den Brief aber dann doch in der Schatulle liegen, ohne ihn nochmals zu lesen.
Sie blieb noch auf der Bettkante sitzen und fing an zu überlegen, was sie alles mit nach Freiburg nehmen würde. Zunächst einmal nur das Kinderbett, das Spielzeug und Kleidung für sie und ihre Kinder. Ein Bett reichte erst mal, da die Kinder seit ihrer Geburt immer zusammen in einem Bett schliefen. Sie machte eine Liste, welche Möbel sie dann später, wenn sie eine eigene Wohnung gefunden hätte, mitnehmen würde. Das Ehebett würde auf jeden Fall im Haus bleiben. Darin hatte sie seit Johannes tot war nicht mehr geschlafen. Sie schlief im Gästezimmer in dem Bett, das sie aus ihrer Freiburger Wohnung mitgebracht hatte.
Am Nachmittag ging sie wie üblich zu den Schwiegereltern ins Haupthaus zum Kaffeetrinken und dort ließ sie dann die Bombe platzen. Ihre Schwiegermutter Susanne war außer sich und ihr Schwiegervater Paul warf ihr Undankbarkeit vor, nach dem, was die Familie alles für sie getan hatte.
„Ich weiß, dass ihr viel für mich getan habt und ohne euch hätte ich das letzte Jahr kaum überstanden“, sagte sie leise. Eindringlicher sprach sie dann weiter: „Aber versteht doch bitte, ich muss irgendwie weiterleben und hier kann ich das einfach nicht. Ich muss wieder zu mir selber finden und ich brauche vor allem einen Job. Meine Elternzeit ist rum und ich kann nicht von den paar Euro Witwenrente und dem Kindergeld leben. Das reicht ja nicht mal für die Lebenshaltungskosten.“
„Und wie stellst du dir das vor?“ fragte Susanne aggressiver wie eigentlich beabsichtigt.
„Ich werde zunächst mal bei meinen Großeltern wohnen, die haben ein Haus mit Garten und fürs erste ist dort genug Platz für uns. Ich habe einen Teilzeitjob gefunden und werde drei Tage die Woche arbeiten. An diesen drei Tagen werden die Kinder in die Kita gehen. Mein Bruder hat den Platz in der Kita für mich organisiert. Ich denke, die Kita wird den beiden guttun, da sind sie mit anderen Kindern zusammen. Sie sind ja jetzt schon drei und sollten so oder so in die Kita.“ Sie schwieg einen Moment, seufzte tief und fügte noch leiser hinzu: „Und dann sehen wir weiter. Vielleicht ziehe ich auch mit Romy zusammen, die möchte sich ein Haus kaufen. Aber das ist noch nicht ganz sicher. Erst mal ist es wichtig, dass ich Arbeit habe und Geld verdiene, ich möchte euch einfach nicht länger auf der Tasche liegen.“ Schweigen machte sich breit.
„Und was wird mit eurem Haus hier?“, unterbrach Paul die Stille.
Leni sah ihn verwirrt an: „Aber das gehört doch euch, ihr habt das doch bezahlt. Da kann ich nicht drüber bestimmen. Vielleicht will Max es ja haben. Oder ihr vermietet es.“ Sie zuckte die Schultern und fuhr fort: „Allerdings nehme ich vorerst nur die Kindersachen, unsere Kleidung und unsere persönlichen Sachen mit. Mehr kann ich bei den Großeltern nicht unterbringen. Sobald ich eine Wohnung gefunden habe, würde ich dann das Kinderzimmer und meine eigenen Möbel nachkommen lassen.“
„Was meinst du mit deinen eigenen Möbeln?“, fragte Susanne.
Leni kämpfte mit den Tränen, schluckte und erklärte: “Die Möbel, die Johannes mitgebracht hat, also das Wohnzimmer, seinen Schreibtisch und das Bett lasse ich hier. Das kann ich nicht mitnehmen, da hängen zu viele Erinnerungen dran.“ Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie verabschiedete sich hastig und lief nach draußen, wo die Kinder friedlich im Hof spielten. Sie umarmte die beiden kurz und lief dann weiter zu ihrem Haus.
Als sie abends mit den Kindern beim Abendessen saß, kam ihr Schwager Max dazu. Er wartete, bis die Kinder im Bett waren und fragte dann, ob es wirklich wahr wäre, dass sie nach Freiburg ziehen wolle, was Leni bejahte.
„Aber warum denn Leni, zusammen könnten wir es hier doch so schön haben. Du weißt wie sehr ich dich und die Kinder liebe. Warum tust du mir das an?“, fragte er sie vorwurfsvoll.
„Max, bitte.“ Sie legte ihm vertraulich eine Hand auf den Arm. „Du weißt genau, dass aus uns nie was werden wird. Außerdem steht mir der Sinn wirklich nicht nach einem anderen Mann.“ Bei sich dachte sie und schon gar nicht nach einem von Moeltenhoff.
Leni atmete tief durch bevor sie weitersprach: „Ich brauche einen Job und außerdem kann ich hier einfach nicht mehr leben, alles erinnert mich ständig an Johannes. Ich muss hier raus. Verstehst du?“ Sie sah ihn groß an und hoffte, dass er sie verstand.
Max sah sie niedergeschlagen an und zuckte mit den Schultern. Er sah gut aus, mit seinem schwarzen Lockenkopf, den fast schwarzen Augen und dem noch oben gezwirbelten Schnurrbart. Aber er war, genau wie sein Vater, ein Casanova und ein untreuer Mann wäre für Leni gar nicht in Frage gekommen. Er hatte ihr in den vergangenen Monaten mehrere Heiratsanträge gemacht, die sie jedes Mal abgelehnt hatte. Seit der Taufe der Kinder war er mehr oder weniger mit ihrer besten Freundin Romy aus Freiburg liiert gewesen, aber nach dem Tod seines Bruders hatte er sich Chancen bei Leni erhofft und hatte die Wochenend-Beziehung zu Romy ausschleichen lassen.
Während der nächsten Wochen hatte Susanne immer wieder versucht, Leni von ihrem Vorhaben abzubringen.
„Du brichst Max das Herz, du weißt, dass er dich und auch die Kinder liebt“, startete Susanne einen letzten Versuch, Leni zum Bleiben zu bewegen.
„Ja Mutti, ich weiß es, aber ich kann für ihn wirklich nur wie für einen Bruder oder guten Kumpel empfinden“, wehrte Leni sich.
„Ach das kommt schon noch, er ist so wie ich gehört habe ein sehr guter Liebhaber…“
„Den ich dann mit unzähligen anderen teilen muss“, unterbrach Leni wütend ihre Schwiegermutter. „Mutti, du solltest doch am besten wissen, wie beschissen man sich fühlt, wenn der Mann dauernd fremd geht.“
Susanne zuckte resigniert die Schultern: „Es gibt Schlimmeres.“
„Ja klar, einen Psychopathen der Frauen vergewaltigt und dann vor dem was er getan hat davonläuft“, brüllte Leni und schwieg betroffen. So hatte sie noch nie über Johannes gesprochen, auch wenn es den Tatsachen entsprach. Es herrschte für eine Weile ein eisiges Schweigen und Leni sank in sich zusammen. Leise sprach sie weiter: „Unsere Ehe war nach dem, was er sich nach dem Ball in Hamburg geleistet hatte sowieso am Ende. Ich habe nie geglaubt, dass er mich tatsächlich auch vergewaltigt hat, weil ich mich nicht daran erinnern kann, aber seit diesem Abend habe ich ihn mit anderen Augen gesehen. Wir wollten uns zwar nochmals versöhnen, wenn er aus Hamburg zurück gewesen wäre, aber wie lange hätte das gehalten?“ Sie sah mit tränennassen Augen zu ihrer Schwiegermutter auf. „Ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich mir auch jetzt noch keine Beziehung zu einem anderen Mann vorstellen kann.“ Sie atmete rief durch. „Aber bitte versteh doch, dass ich einfach nicht hierbleiben kann.“
„Und was war mit Henrik?“, kam dann auch noch die vorwurfsvolle Frage von Susanne.
„Nichts, was soll gewesen sein?“, fragte Leni aggressiv. „Johannes hatte ihn gebeten, sich um mich zu kümmern, und das hat er getan.“ Um nichts in der Welt hätte Leni zugegeben, dass ihre Schwiegermutter einen wunden Punkt berührt hatte.
Leni hatte ihren Kombi bis unter das Dach vollgepackt und sich schweren Herzens mit den Kindern auf die Fahrt in Richtung Freiburg gemacht. Der Abschied von ihren Schwiegereltern und dem Rest der Familie fiel ihr doch schwerer als gedacht und sie kam nicht so früh los, wie ursprünglich geplant. Mit Tränen in den Augen und einem dicken Kloss im Hals war sie losgefahren.
Unterwegs musste sie plötzlich an Henrik denken. Johannes hatte ihm eine kurze Nachricht geschrieben und ihn gebeten sich um Leni zu kümmern, bevor er in den Tod gesprungen war. Sie hatte Henrik schon immer gemocht, er war unkompliziert und es gefiel ihr, dass sie mit ihm über alles reden konnte. Henrik stand ihr in den ersten Wochen immer zur Seite. Er brachte ihr auch ihre persönlichen Sachen, das Kinderbett und einige Kleinmöbel aus ihrer Wohnung in seinem Haus mit. Die Kleidung von Johannes und die anderen Möbel verkaufte er für sie. Auch wenn er nur hin und wieder an den Wochenenden zu ihr ins Münsterland fahren konnte, so telefonierten sie oft miteinander, wobei er ihr ruhig zuhörte und ihr immer wieder Mut zusprach. Wenn er sie besuchte, bestand die Familie allerdings darauf, dass er in einem Appartement im Gästehaus schlief. Man ließ die beiden auch selten mal alleine. Leni kam sich allmählich vor, als würde die Familie befürchten, er könnte sie verführen. Sie waren schließlich beide erwachsen und zudem konnte sie sich nicht vorstellen, mit einem anderen Mann ins Bett zu gehen. Aber dieses Getue nervte sie beide und Henrik hatte Leni mehrmals vorgeschlagen, für ein paar Tage zu ihm nach Hamburg zu kommen. Leni hatte aber noch Bedenken, wieder in das Haus zu kommen, in dem sie mit Johannes eine Wohnung bewohnt hatte.
Als sie eines Sonntags vor seiner Abfahrt zusammen an seinem Auto standen, und sich wie üblich mit kleinen Wangenküsschen verabschiedeten, zog er sie etwas näher an sich ran und fragte sie, ob er denn mindestens den Hauch einer Chance bei ihr hätte. Leni hatte ihn angelächelt und ihm gesagt, dass sie ihn mag und wenn, dann wäre er der Einzige, der eine Chance hätte. Sie hatte ihn aber gebeten, ihr noch Zeit zu lassen, da es für eine neue Beziehung für sie einfach noch zu früh sei. Er hatte sie sanft geküsst, ihre Wange gestreichelt und ihr versichert, dass er ihr die Zeit geben würde, die sie bräuchte. Im Laufe der nächsten Monate hätte sie sich eine Beziehung mit Henrik wirklich gut vorstellen können, auch wenn es nicht die überschäumende Liebe war, die sie für Johannes empfunden hatte. Er mochte sie und ihre Kinder, war klug und hatte gute Manieren, zudem sah er auch noch gut aus. Gerade als sie endlich dazu bereit gewesen wäre ihn in Hamburg zu besuchen, ging ein neuer Stern namens Liane am Liebes-Firmament von Henrik auf. Leni merkte sofort dass etwas nicht stimmte, als sie ihn anrief, um ihm zu sagen, dass sie für ein paar Tage nach Hamburg kommen würde. Er stammelte etwas von gerade unpassend und sie beendete das Gespräch abrupt ohne Verabschiedung. Einige Tage später hatte er sie zurückgerufen und ihr die Wahrheit gesagt. Sie war fürchterlich enttäuscht und empfand es als erneute Bestätigung, dass sie einfach kein Glück mit Männern hatte. Er hatte ihr zum Geburtstag im Oktober eine kurze Nachricht geschickt, die sie aber unbeantwortet gelöscht hatte. Nach dieser Enttäuschung reifte in ihr allmählich der Entschluss, wieder zurück nach Freiburg zu ziehen.
Nun saß sie also mit Sack und Pack in ihrem Auto auf dem Weg in Richtung Süden und nicht in den Norden. Ein wenig Bammel hatte sie schon davor, ein neues Leben zu beginnen und auf eigenen Füßen zu stehen.
Zum Glück war es kein schlechtes Wetter, aber trotzdem hatte sie die vergangenen Nächte Alpträume gehabt, da sie nicht gerne weite Strecken fuhr. Deshalb war sie heilfroh, als sie am späten Nachmittag gut bei ihren Großeltern in Denzlingen bei Freiburg ankam. Sie war erleichtert, dass sie es gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit geschafft hatte.
Die Großeltern waren die Eltern ihres verstorben Vaters und nahmen Leni und ihre Kinder liebevoll bei sich auf. Es waren warmherzige Leute und sie drängten Leni zu nichts. Wenn sie reden wollte, hörten sie ihr zu und wenn sie sich zurückzog, dann akzeptierten sie das ohne Murren.
Als Leni sich auf der Behörde ummeldete, beantragte sie auch eine Namensänderung, der Doppelname, den sie trug, war ihr lästig. Sie hatte von Anfang an ihren Namen behalten wollen, hatte sich aber Johannes zuliebe dazu durchgerungen einen Doppelnamen zu tragen. Und so wurde aus Helene Marie Kaiser-von Moeltenhoff einfach wieder Helene Marie Kaiser.
Die Kinder reagierten zunächst verstört auf das neue Umfeld und den neuen Lebensrhythmus, vor allem Cora verhielt sich ihrer Mutter gegenüber bockig und Leni machte sich Vorwürfe, dass sie nur an sich und nicht an das Wohl ihrer Kinder gedacht hatte. Sie befürchtete eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Doch ihre Großeltern redeten ihr gut zu und unterstützten sie, wo sie konnten. Und tatsächlich lebten die beiden Kinder sich dann doch relativ schnell ein.
Leni hatte einen Termin in einer Kinderarztpraxis vereinbart, da ihre beiden Kinder noch eine Impfung brauchten. Die Kita-Leiterin hatte sie mehrmals ermahnt, und ihr gedroht, dass die Kinder sonst nicht mehr kommen könnten. Aber die ersten Wochen mussten Leni und die Kinder sich erst mal eingewöhnen, es gab einiges an Papierkram zu erledigen, zudem war sie es nicht mehr gewohnt regelmäßig zu arbeiten. Deshalb fühlte sie sich ziemlich gestresst und hatte es versäumt, sich rechtzeig einen Termin geben zu lassen.
Sie saß mit ihren beiden Kindern im Wartezimmer und las ihnen vor. Sie war total erstaunt, als sie aufgerufen wurden, obwohl andere Patienten vor ihnen da waren. Kurz nachdem sie mit den Kindern im Sprechzimmer Platz genommen hatte, kam schwungvoll ein junger Arzt rein, der sich mit Doktor Bräuer vorstellte. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass die Kinder geimpft werden müssten und er die beiden bitte auch noch durchchecken sollte, bat er Cora zu sich, die ihn plötzlich mit „Papa“ ansprach. Leni erklärte ihm daraufhin, dass ihr Mann verstorben sei und dass Cora sehr an ihm gehangen habe und ihn schmerzlich vermisse. Der Arzt und sie hatten sich daraufhin in die Augen gesehen und der warme Blick aus seinen schönen braunen Augen ging ihr durch und durch, obwohl sie schon wieder den Tränen nahe gewesen war. Sie beobachtete dann wie der Arzt behutsam ihre Tochter untersuchte. Er hatte dunkelbraunes, welliges Haar, das er gleichmäßig lang, nach hinten gekämmt und hinter die Ohren gestrichen trug. In seinem Nacken ringelten die Haare sich zu niedlichen Löckchen und sie musste sich beherrschen, dass sie nicht einfach in diese Locken gegriffen hatte. Er hatte ein eher rundes Gesicht und einen schönen Mund, nicht zu groß und nicht zu klein, fand sie, und seine Lippen sahen verführerisch aus. Wenn er lächelte zeigten sich niedliche Grübchen auf seinen Wangen, die ihr gefielen. Eine Narbe zog sich über seine linke Kinnhälfte und endete knapp neben dem Mundwinkel. Er war etwas über eins achtzig groß, hatte eine sportliche Figur und trug wie alle Mitarbeiter der Praxis weiße Hosen und ein korallenrotes T-Shirt. Auf seiner linken Brust wies ein Namensschild ihn als Dr. Adrian Bräuer aus. Leni dachte: Wow, Adrian, was für ein schöner Name für so einen schönen Mann. Als sie dann auf seine Hände sah, erkannte sie auf den Kanten der Außenseiten eine Reihe kleiner dunkler Härchen, was sie süß fand. Und sie ertappte sich bei dem Gedanken: Wie schön wäre es, wenn diese Hände nicht meine Tochter untersuchen, sondern meinen Körper erkunden würden. Es war das erste Mal seit dem Tod ihres Mannes, dass sie sich zu einem Mann derart hingezogen fühlte und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Den weiteren Verlauf dieses Arztbesuchs erlebte sie wie in Trance. Der Arzt fand, dass Viktor zu flach atmete und ließ deshalb seine Lunge röntgen, und sie war erleichtert, dass nichts Schlimmes dabei rauskam. Doktor Bräuer zeigte Viktor und ihr einige Atemübungen, die ihr Sohn regelmäßig machen sollte. Als sie mit ihren Kindern auf dem Heimweg war, nannte sie sich selber eine blöde Kuh und sie war sich sicher, dass so ein toller Mann sicher nicht mehr zu haben war und schon gar kein Interesse an einer Witwe mit zwei kleinen Kindern haben würde. So ganz konnte sie ihn aber während der nächsten Wochen nicht vergessen und sie freute sich auf den nächsten Impftermin für ihre Kinder. Da war sie dann total enttäuscht, als sie nicht zu ihm, sondern in das Sprechzimmer von Dr. Hildebrandt geführt wurde.
Leni war auf der Suche nach einer passenden Wohnung, sie las sämtliche Annoncen und telefonierte alle Maklerbüros ab, aber in Freiburg und Umgebung war es so gut wie unmöglich eine bezahlbare Wohnung zu finden, und so nahm sie dann doch den Vorschlag von Romy an, mit ihr zusammen in das Haus zu ziehen, dass diese sich gekauft hatte. Die beiden Frauen kannten sich schon seit der Grundschule, und Leni war sich durchaus bewusst, dass Romy ein verwöhntes Einzelkind war und hatte einige Bedenken. Aber der Vorteil war, dass das Haus ebenfalls in Denzlingen stand und die Kinder weiterhin in die gleiche Kita gehen konnten. Zudem war es nur zwei Häuser von Lenis Elternhaus, in dem ihr Bruder Tobias mit seiner Familie wohnte, entfernt.
Zusammen mit Romy besah sie sich das Haus ausgiebig und sie beschlossen, dass Leni mit den Kindern in den Räumen im Obergeschoss wohnen sollte, und Romy im Erdgeschoss. Die Küche sowie Wohn- und Esszimmer würden sie sich teilen. Es musste nur aus der kleinen Gästetoilette im Erdgeschoss ein etwas größeres Badezimmer gemacht und alles neu gestrichen werden. Leni versprach sich um den Umbau und die sonstigen Renovierungsarbeiten zu kümmern und sie setzten einen Mietvertrag auf. Als dann endlich alles so weit war, beauftragte sie eine Möbelspedition ihre Möbel aus dem Münsterland abzuholen.